Familie hat einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung. Drei Viertel der Menschen in Deutschland geben an, dass man eine Familie braucht, um glücklich zu sein (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. 12).
Dennoch ist die Familie sowohl für die Gewaltentstehung als auch für die Gewaltprävention ein zentraler Bereich. Die Familie ist der gesellschaftliche Ort, an dem die meiste Gewalt stattfindet und an dem auch (Klein-) Kinder ihre ersten Gewalterfahrungen gerade durch die Menschen machen, die sie am meisten lieben.
Die Familie steht im Schnittpunkt zwischen Gesellschaft und Individuum. Sie ist die Stelle, an der die gesellschaftlichen Verhältnisse die Interaktionsmuster der Individuen formen und deformieren. Sie vermittelt die ersten und grundlegenden sozialen Erfahrungen und ist der erste Sozialisationsbereich. Die Eltern (oder familienersetzende Einrichtungen) beeinflussen die Einstellungen und das Verhalten ihrer Kinder im Wesentlichen so:
- Sie bestimmen durch ihre Zuwendung oder Ablehnung die emotionale Grundorientierung ihres Kindes.
- Sie dienen als Modelle für die Nachahmung (Identifizierung), sodass die Kinder von ihnen Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen übernehmen.
- Sie vermitteln den Kindern einen sozialen, kulturellen und ethischen Kontext für ihr Denken und Handeln.
- Sie prägen durch ihre Beziehungen zueinander und zu den Kindern deren weitere Persönlichkeit.
Die Bedeutung dieser familiären Erfahrungen zeigt sich u.a. auch daran, dass bei Untersuchungen über auffällige, delinquente, aggressive und gewalttätige Jugendliche immer schwierige Familienverhältnisse verbunden mit enormen emotionalen Defiziten zu finden sind. Familiäre Lebensformen sind heute sehr vielfältig und haben kultur-spezifische Ausprägungen. Familien sind einem äußerst starken Wandel unterworfen. Mit dem Prozess der Modernisierung haben sie sich von traditionellen Großfamilien zu Klein- oder Kernfamilien gewandelt. Vielfach sind traditionelle Familienverbände in der Auflösung begriffen und oft äußerst brüchig geworden. Jedes dritte Kind in Deutschland wird inzwischen außerehelich geboren (im Osten sogar 61 % der Kin-der, im Westen 27 %) (www.spiegel.de, 12.8.2011).
Gewalt in Familien verhindern
„Aus der Forschung wissen wir, dass ‚erlebte Gewalt-tätigkeit durch andere‘ der wesentliche Faktor dafür ist, später selbst Gewalt anzuwenden. Gewalttätigkeit in Familien wird gleichsam vererbt, Gewalt züchtet Gewalt. Kinder müssten besser als gegenwärtig davor geschützt werden, dass Eltern mit ihrem eigenen Leben nicht zurechtkommen und aus der Ohnmacht und Enttäuschung über ihr Versagen ihre Aggressionen gegen ihre Kinder wenden. Wenn wir aber Gewalt in der Familie vermindern wollen, dann ist das ein langwieriger Prozess, bei dem Gewalt vermutlich von Generation zu Generation um wenige Prozentpunkte vermindert wird.“ (Sader 2007, S. 91)
Risikolagen ergeben sich für Kinder vor allem dann, wenn sie in einer Familie leben (vgl. Brown/Winterton 2010),
- in der es häusliche Gewalt gibt.
- in der ein harter Erziehungsstil normal ist.
- in der ein Mangel an elterlicher Fürsorge festzustellen ist.
- in der anti-soziales Verhalten alltäglich ist.
- in der es Schwierigkeiten beim Umgang mit Problemen gibt.
Doch auch ganze Familien sind Risiken ausgesetzt, besonders dann, wenn die Eltern
- „nicht in das Erwerbsleben integriert sind (soziales Risiko),
- über ein geringes Einkommen verfügen (finanzielles Risiko) oder bzw. und
- über eine geringe Ausbildung verfügen (Risiko der Bildungsferne)“ (Deutscher Bundestag 2013, S. 140).
Diese Risikolagen bestimmen nicht nur die aktuellen ungleichen Teilhabechancen, sondern haben auch Auswirkungen auf spätere Schulleistungen, auf Interessen und Zugehörigkeiten sowie auf die Bewältigung der alterstypischen Entwicklungsaufgaben. Dies hat zur Folge, dass die soziale Herkunft und die familiären Muster gerade in Deutsch-land in hohem Maße auch die ungleichen Teilhabechancen im späteren Erwachsenenalter prägen.
Auf der familiären Ebene werden Eltern durch Kinder mit neuen, bislang nicht gekannten Aufgaben und Anforderungen konfrontiert (vgl. Brock 2012): Elternsein bedeutet zunächst Verlust an Freiheit. Der Tagesablauf verändert sich. Die gewohnten Beziehungsmuster inner-halb der Paarbeziehung aber auch in den Außenkontakten sind so nicht mehr lebbar. Ein neues Rollenverständnis als Mutter bzw. Vater muss gefunden werden. Übernahme von Verantwortung für das Kind sowie Verlässlichkeit sind zentrale Erwartungen. Häufig sinkt die Zufriedenheit in der Partnerschaft und das Empfinden, kaum einen Raum mehr für sich selbst zu haben, nimmt zu. Diese neue Lebenssituation, in der die Kinder ihre Ansprüche anmelden, ist oft mit einem hohen Maß an Verunsicherung verbunden. Dabei können gerade Eltern die emotionale und soziale Entwicklung ihrer Kinder besonders gut fördern (vgl. Eisner u.a. 2009).
Das verstehe ich unter einer Familie
- ein verheiratetes Ehepaar mit Kindern (97%)
- drei Generationen, die zusammenleben (82%)
- ein unverheiratetes zusammenlebendes Paar mit Kindern (71 %)
- eine alleinerziehende Mutter/Vater mit Kindern (58%)
- zwei Frauen oder Männer mit Kindern, die in einer festen Lebensgemeinschaft leben (42%)
- ein verheiratetes Ehepaar ohne Kinder (34%)
- ein unverheiratetes zusammenlebendes Paar ohne Kinder (17%)
- zwei Frauen oder zwei Männer ohne Kinder, die in einer festen Lebensgemeinschaft leben (12%)
Repräsentative Bevölkerungsumfrage Bundesrepublik Deutschland, ab 16 Jahren (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. 13)
Was Kinder brauchen
Kinder brauchen in der Familie eine sichere Bindung, die Erfahrung eines guten familiären Zusammenhalts sowie ein Erziehungsverhalten, das sich sowohl durch Forderungen und Kontrolle als auch durch eine hohe elterliche Wärme auszeichnet (vgl. Kneise 2008, S. 122; Stein 2008, S. 101 ff.).
Eine positive Bindung zwischen Eltern und Kind beruht auf einer unbedingten Annahme des Kindes. Dies drückt sich u.a. durch Wertschätzung und Anerkennung, Wärme und Geborgenheit sowie Förderung und Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung aus. Das affektive Klima ist dabei die formende Kraft der kindlichen Entwicklung. Aktivitäten und Gefühle erhalten in der frühesten Kindheit ihre Grundrichtung. Störungen treten dann auf, wenn die Beziehungen der Interaktionspartner aus Gleichgültigkeit, beziehungslosem Nebeneinander oder gar Ablehnung bestehen.
Als positive Grundorientierung kann das Prinzip einer gewaltfreien Erziehung angesehen werden. Von besonderer Bedeutung ist die weit-gehende Erfüllung der vier psychischen Grundbedürfnisse von Kindern (vgl. Klemenz 2009, S. 364 ff.): (1) Lustgewinn und Unlustvermeidung, (2) Orientierung und Kontrolle, (3) Selbstwertschutz und Selbstwerter-höhung, (4) Bindung (ausführlich in Kap. 3.1). Kinder müssen also als je eigene Person wahrgenommen und gesehen werden und sie benötigen Beachtung, Resonanz und Spiegelung auf ihr Dasein sowie ihre Äußerungen – nur dann können sie sich positiv entwickeln.
Strafen helfen nicht weiter
Von besonderer Bedeutung sind die Erziehungspraktiken, insbesondere die Reaktionen auf Regel- und Normüberschreitungen. Vor allem Strafen (besonders Körperstrafen) haben hier negative Effekte, da sie unliebsames Verhalten unterdrücken aber keine Alternativen anbieten. Solche Strafen werden von Eltern oft angewendet, wenn sie sich überfordert fühlen und keine alternativen Verhaltensmodelle zur Verfügung haben. Viele bedauern anschließend ihr Verhalten oder haben gar Schuldgefühle.
Das Ausmaß und die Art der Bestrafung von Kindern steht in engem Zusammenhang mit dem Erwerb aggressiver Verhaltensweisen. Viele Eltern betrachten körperliche Züchtigung immer noch als ein normales Erziehungsmittel, obwohl dies gesetzlich verboten ist und Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Körperstrafen und strenge Bestrafungsrituale durch Eltern bedeuten, dass Aggressionen oder Fehlverhalten des Kindes durch die Aggression der Eltern „beantwortet“ werden.
Strafen werden oft damit begründet, dass Kinder nur so lernen würden, die gesetzten Normen einzuhalten. Doch was lernen sie wirklich?
- Sie lernen sich anzupassen, anstatt persönlich Verantwortung zu übernehmen und werden so in ihrer eigenständigen Entwicklung gehindert.
- Sie erfahren, dass Erwachsene die Macht haben, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen und dass Gewalt zum Ziel führt.
- Sie werden gegenüber Strafandrohungen zunehmend gleichgültiger und kalkulieren Strafen in ihr Verhalten ein.
Kinderfragen
- Wer bin ich für Dich?
- Existiere ich für Dich?
- Kennst Du mich?
- Glaubst Du an mich?
- Zeige mir, dass Du mir etwas zutraust.
(Joachim Bauer)
Strafe ist ihrem Wesen nach auf Diskriminierung gerichtet und wendet sich gegen das Selbstwertgefühl der Bestraften. Strafen zerstören so nicht nur die Beziehungen und das soziale Klima, sondern auch die Persönlichkeit. Dies gilt vor allem, wenn sie als hart und ungerecht empfunden werden. Eine strafende Erziehung zielt auf eine optimale Anpassung des Kindes an die sozialen Erfordernisse der Umgebung. Anders als Strafen ergeben sich aus spezifischen Situationen „natürliche“ und „logische“ Konsequenzen, die verdeutlichen, dass bestimmte Regeln einzuhalten sind (z. B. ohne Fahrradhelm wird nicht Fahrrad gefahren).
Der Zusammenhang zwischen in der Familie selbst erlebter (oder auch beobachteter) Gewalt und eigenem Gewaltverhalten ist empirisch gut belegt. Eltern, die ihre Kinder schlagen, müssen auch damit rechnen, dass die Kinder sich ihnen gegenüber ebenfalls aggressiv verhalten, d.h. sie verbal oder körperlich angreifen. Dabei sind starke Geschlechterunterschiede zu beachten. Mädchen erfahren mehr Zuwendung, aber auch mehr Kontrolle als Jungen.
Familien in Deutschland
In Deutschland gibt es 8,1 Mio. Familien mit minderjährigen Kindern.
71 % der Eltern sind verheiratet.
9 % der Familien sind nichteheliche Lebensgemeinschaften.
20 % sind Alleinerziehende mit Kindern.
26 % der Kinder sind Einzelkinder.
47 % der Kinder haben ein Geschwisterkind.
19 % der Kinder haben zwei Geschwister.
8 % der Kinder haben drei und mehr Geschwister.
10–14 % aller Familien sind Patchworkfamilien.
2,3 Mio (29 %) aller Familien mit minderjährigen Kindern haben einen Migrationshintergrund. (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. 14 ff.)
Eltern sollten ...
Eltern sollten in ihren eigenen Lebensvollzügen für ihre Kinder keine aggressiven Vorbilder (Modelle) sein. Sie sollten ihre Konflikte, auch die mit ihren Kindern, auf konstruktive Art und Weise lösen können und sich mit befürwortenden Äußerungen zur Androhung und Anwendung von Gewalt (bei anderen Personen oder auch staatlichen Aktionen) sehr zurückhalten. Ihr Erziehungsverhalten darf die emotionale Basis zu ihrem Kind, sein prinzipielles Angenommensein, nie in Frage stellen.
Neben den Strafmethoden ist die Nichtübereinstimmung des Erziehungsverhaltens von Vater und Mutter ein Moment, das bei Kindern zur Desorientierung führen kann. Hinzu kommt, dass das selbst angewendete Verhalten oft nicht den eigenen propagierten Grundsätzen entspricht. Eltern sind einerseits gegen Gewalt und drücken dies auch klar aus, wenden andererseits aber in bestimmten Situationen ihre Macht an, um gewünschtes Verhalten durch psychischen Druck oder gar körperliche Gewalt durchzusetzen. Erziehungsstile lassen sich nicht einfach verändern. Sie sind milieuabhängig und werden oft über Gene-rationen hinweg angewendet (Brock 2012, S. 15).
Familienkonflikte konstruktiv austragen
Familien ohne Konflikte gibt es nicht. Dennoch werden unterschiedliche Interessen häufig als etwas Negatives gesehen, weil sie in „geordneten Verhältnissen“ eigentlich nicht vorkommen dürfen. Konflikte zwischen den Eltern können das Familienklima stark beeinträchtigen und die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern behindern. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn Eltern Kinder als Verbündete missbrauchen. Andererseits ist es auch möglich, dass die Eltern ihren Kindern beispielhaft zeigen, wie mit Konflikten produktiv umgegangen werden kann.
Konflikte zwischen Eltern und Kindern sind von vornherein durch ein Machtgefälle geprägt. Partnerschaftliche Lösungen bedingen hier, dass Eltern (zumindest teilweise) auf die Anwendung von Machtmitteln verzichten und das Kind nicht in die unterlegene Position bringen. Auseinandersetzungen zwischen Kindern sollten von diesen so weit wie möglich selbständig gelöst werden. Eltern haben jedoch darauf zu achten, dass jüngere oder schwächere Kinder nicht permanent übervorteilt werden.
Nicht jeder Konflikt, der in der Familie aufbricht, ist auch dort entstanden. Die Arbeitslosigkeit eines Elternteils, mangelnder Wohnraum oder ein zu geringes Familieneinkommen sind Faktoren, die die betroffenen Familien stark belasten und sich sehr konfliktträchtig auswirken können. Es kann für die Familienmitglieder sehr entlastend sein, zu erkennen, dass nicht „böse Absichten“ oder „zerstörerische Persönlichkeitsanteile“ der anderen das Zusammenleben konflikthaft gestalten, sondern äußere Faktoren, selbst wenn diese nicht sofort oder nicht in absehbarer Zeit veränderbar sind. Solche Konflikte müssen zwar von der Familie ausgehalten werden, lösbar sind sie in diesem Rahmen jedoch nicht. Lernen, mit Konflikten gewaltfrei umzugehen, ist ein wichtiger Beitrag, um Gewalt in der Familie zu verhindern.