Resilienzorientierung

Das Resilienzkonzept nimmt den Ansatz von Schutzfaktoren auf und integriert ihn in eine eigene umfassendere Sichtweise, die auf der von Aaron Antonovsky entwickelten Salutogenese fußt. Salutogenese hat den gesamten Menschen im Blick und fördert die eigene Entwicklung und Selbstregulation im Sinne einer anzustrebenden „Gesundheit“. Resilienzforschung ist ein relativ neuer und zunehmend beachteter Ansatz zur Förderung und Unterstützung kindlicher Entwicklung in schwierigen Situationen (vgl. Zander 2011; Brisch/Hellbrügge 2012; Opp u.a. 1999).

Der Begriff Resilienz stammt aus der Baukunde und beschreibt dort die Biegsamkeit von Material. Er lässt sich am besten mit „biegen statt brechen“ umschreiben. Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Men¬schen verstanden, Krisen unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen, wobei dieser Prozess das ganze Leben hindurch andauert.

Gewaltprävention Vorschule, Kindergarten, Kiga, Kita

Resilienzforschung untersucht schwerpunktmäßig drei Bereiche (Nuber 2004, S. 21 f.):

  • Wie ist bei Kindern eine gesunde Entwicklung möglich, obwohl sie mehrfach vorhandenen Risikofaktoren wie Armut, Vernachlässigung, Misshandlung oder alkoholkranken Eltern ausgesetzt sind?
  • Warum zerbrechen Menschen nicht an extremen Stressbedingungen?
  • Warum und wie sind Menschen in der Lage, sich von traumatischen Erlebnissen (Gewalterfahrungen, Naturkatastrophen, Kriegserlebnissen, Tod eines nahe stehenden Menschen) relativ schnell zu erholen?

Zusammenhänge von Resilienz
Emmy Werner verwendet den Begriff Resilienz in drei verschiedenen Zusammen-hängen:

„1. Gute Entwicklungsergebnisse bei Kindern mit hohem Risiko, die große Widrigkeiten überwunden haben, z. B. ökonomische Belastungen und Vernachlässigung (...),
2. Kompetenz unter großen Belastungen, vor allem eheliche Auseinanderset-zungen und Scheidung der Eltern und
3. Personen, die sich erfolgreich von gravierenden traumatischen Erfahrungen in der Kindheit wie Krieg, politischer Gewalt, Konzentrationslager und Gefängnisaufenthalten der Mütter (...) erholt haben. In jedem Fall konnten oft bestimmte Schutzfaktoren den vorgezeichneten pathologischen Entwicklungsweg abmildern oder sogar ganz verhindern.“
(Grossmann 2012, S. 29)

Dabei ist das Ziel, protektive Faktoren zu identifizieren und entwickeln zu können. Im Mittelpunkt einer Resilienzorientierung in der pädagogischen Praxis steht, vorhandene Fähigkeiten und Kompetenzen weiter zu fördern und zu stärken, die Selbstheilungskräfte und sozialen Netzwerke zu aktivieren und somit „schützende“ Faktoren und Beziehungen zu entwickeln und stabilisieren zu können.

Dieser Ansatz der Entwicklung „seelischer Stärke“ geht davon aus, dass Menschen nicht einfach Produkt ihrer Umstände oder ihrer Sozialisation sind, sondern sich auch aus eigener Kraft entwickeln können. Schwerwiegende frühkindliche Beeinträchtigungen wie Vernachlässigung oder Misshandlung müssen nicht zwangsläufig zu späteren gesundheitlichen und psychischen Problemen führen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass solche Kinder in ihrem Leben hier-für auch einen Preis bezahlen müssen, z. B. als Kind die eigene, schwer belastete Familie zu verlassen (vgl. Grossmann 2012, S. 31).

Resiliente Kinder verfügen also über Schutzfaktoren, welche die negativen Auswirkungen widriger Umstände abmildern:

  • Sie finden Halt in einer stabilen emotionalen Beziehung zu Vertrauenspersonen außerhalb der zerrütteten Familie. Großeltern, ein Nachbar, ein Lieblingslehrer, der Pfarrer oder auch Geschwister bieten vernachlässigten oder misshandelten Kindern einen Zufluchtsort und geben ihnen die Bestätigung, etwas wert zu sein. Diese Menschen fungieren als soziale Modelle, die dem Kind zeigen, wie es Probleme konstruktiv lösen kann.
  • Wichtig ist auch, dass einem Kind, das im Elternhaus Vernachlässigung und Gewalt erlebt, früh Leistungsanforderungen gestellt wer-den und es Verantwortung entwickeln kann. Zum Beispiel indem es für kleine Geschwister sorgt oder ein Amt in der Schule übernimmt.
  • Auch individuelle Eigenschaften spielen eine Rolle: Resiliente Kinder verfügen meist über ein „ruhiges“ Temperament, sie sind weniger leicht erregbar als andere. Zudem haben sie die Fähigkeit, offen auf andere zuzugehen und sich damit Quellen der Unterstützung selbst zu erschließen. Und sie besitzen oft ein spezielles Talent, für das sie die Anerkennung von Gleichaltrigen bekommen.

Resilienz ist nicht Schicksal, sie ist nicht angeboren und sie entwickelt sich nicht ohne das Zutun anderer. Sie steht am Ende eines (oft langen) Interaktionsprozesses mit einer Vielzahl von schützenden Faktoren im Umfeld (vgl. Werner 2011, S. 47). Dabei spielen der Glaube an sich selbst sowie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eine wichtige Rolle. Eine unbedingte Voraussetzung und Grundlage für die Herausbildung von Resilienz ist die Zugehörigkeit zu einem größeren Verbund von Menschen, der über die Familien hinausgeht. Diese wird jedoch zunehmend durch den Prozess der Modernisierung und Individualisierung in Frage gestellt. Um günstige Bedingungen für Resilienz schaffen zu können, ist die Entwicklung von Gemeinwesen, Freundeskreisen, Nachbarschaft oder religiösen Gemeinschaften und konstruktiven Gruppen notwendig.

Es gibt inzwischen auch mahnende Stimmen, die vor einem unkritischen Umgang mit dem Resilienzbegriff warnen, da dieser inflationär gebraucht zunehmend bedeutungslos werde (Freiberg 2011, S. 219 ff.; Grossmann 2012, S. 30). Das Resilienzkonzept sei kein Allheilmittel für alle Problembereiche kindlicher Entwicklung. Es müsse genau geprüft werden, wann und wie es seine Wirkung entfalten könne.

Kohärenzgefühl als Zentrum der Widerstandsfähigkeit
Die drei Komponenten des Kohärenzgefühls sind:

  • Verstehbarkeit: Das Kind hat das Vertrauen darauf, dass die Probleme und Belastungen einschätzbare und erklärbare Phänomene sind.
  • Handhabbarkeit: Das Kind hat das Vertrauen darauf, dass die Situationen und Aufgaben mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Hilfs-mittel (Ressourcen) zu handhaben und zu lösen sind.
  • Bedeutsamkeit: Das Kind hat das Vertrauen darauf, dass die Anforderungen des Lebens als sinnvoll angenommen werden können und dass das Engagement sich lohnt.

(Krause o.J.)

 

Was Kinder resilient werden lässt
Die Resilienzforschung benennt drei wichtige Kategorien von Schutzfaktoren:

  • persönliche Merkmale
    1. eine freundliche, aufgeschlossene, positive und herzliche Grundstimmung, die bei Bezugspersonen eine ähnlich positive Reaktion auslöst
    2. ein sicheres Bindungsverhalten zumindest zu einem Familienmitglied
    3. eine hohe „Effizienzerwartung“, die Menschen mit Behinderung zur Bewältigung von Aufgabenstellungen motiviert
    4. ein realistischer Umgang mit Situationen und deren Problematik, verbunden mit gut handhabbaren Gefühlen von Verantwortung und Schuld
    5. durchschnittliche bis überdurchschnittliche Fähigkeiten und hohe soziale Kompetenzen, insbesondere Empathie und Fähigkeiten zum Lösen von Konflikten, aber auch zum Auslösen von sozialer Unterstützung durch die Bereitschaft der „Selbstenthüllung“
    6. ein hohes Maß an Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • schützende Faktoren in der Familie
    1. eine verlässliche primäre Bezugsperson
    2. ein Erziehungsstil, der Risikoübernahme und Unabhängigkeit möglich macht bzw. zum Ziel hat
    3. die Ermutigung, Gefühle auszudrücken, verbunden mit einer positiven Identifikationsfigur
  • schützende Faktoren außerhalb der Familie
    1. stabile Freundschaften
    2. unterstützende Erwachsene, z. B. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Betreuerinnen und Betreuer etc.
    3. eine erfreuliche und unterstützende Situation in Kindertageseinrichtungen und Schule mit angemessenen Leistungsanforderungen, klaren und gerechten Regeln, der Übernahme von Verantwortung und vielfacher positiver   Verstärkung von Leistung und Verhalten
    4. eine sensible Öffentlichkeit

Gewaltprävention Vorschule und Kindergarten(Kobelt-Neuhau 2004, S. 7)

 

Schützendes Umfeld
Das Resilienzkonzept darf nicht als Freibrief für die Politik im Sinne von „die individuellen Stärken werden sich schon durchsetzen“ verstanden werden. Bei realistischer Betrachtung geht es darum, neben den individuellen Schutzfaktoren auch einen Rahmen für effektive Präventionsarbeit und ein schützendes und stützendes Umfeld zu entwickeln, das Hilfestrukturen ebenso wie gute Lebensbedingungen im familiären Umfeld umfasst. Resilienzorientierung ist also kein individuell ausgerichtetes Handlungskonzept, sondern auch eine gesellschaftliche Orientierung an der Förderung des „Lebendigen“.

Dies bedeutet für Kindertagesstätten zunächst, die eigenen Ressourcen zu kennen und aktivieren zu können, resiliente Netzwerke aufzubauen, Partizipation und Teilhabe der Kinder und Eltern zu ermöglichen, über konstruktive Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung auf allen Ebenen zu verfügen und den Alltag so zu organisieren und zu strukturieren, dass Stress für alle reduziert wird.

Mitbestimmung und Resilienz
„Es wurde deutlich, dass Kinder umso stärker und somit resilienter werden, je mehr sie an Entscheidungen, Planungen und Abläufen der Kindergärten beteiligt werden: Mitbestimmung ermöglicht Resilienz. Je intensiver Einrichtung en Kinder im Sinne einer realen Mitbestimmung beteiligen, desto klarer er kenn bar wird deren Wirksamkeit hinsichtlich der Ermöglichung von Resilienz.“
(Kamp 2012)

Gewaltprävention Vorschule und KindergartenDabei dürfen die persönlichen Befindlichkeiten und Ressourcen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht vergessen werden. Viele von ihnen leiden unter der Zeit- und Personalsituation, der Raumgestaltung und der Raumatmosphäre, der Gruppengröße sowie der fehlenden Anerkennung durch die Öffentlichkeit (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2002, S. 58). Nur wenn sie es schaffen, dass sie in ihrem Arbeitsalltag Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Anerkennung erleben können, können sie auch mit den Kindern, Eltern und den Kolleginnen und Kollegen so umgehen, dass sie auch schwierige und komplexe Situationen angemessen bewältigen können.

Resilienzförderung verstanden als langfristiger Aufbau von Ressourcen lässt sich nicht mit punktuellen Trainingsprogrammen herstellen. Sie ist vielmehr lebensbegleitend und bietet auch Schutz und Fürsorge. Sie ist langfristig, kontinuierlich und verlässlich im direkten Umfeld des Kindes verankert und schafft im Alltag Erfahrungsräume, die selbst-wirksames Handeln ermöglichen. Kindertagesstätten können dabei bei belasteten Kindern ein entscheidender Ort von Sicherheit und Struktur sein (vgl. Wustmann 2011, S. 352 ff.). 

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